Richard, Wilhelm, Theodor und Albert

Unternehmer in zweiter Generation

Die anderen, denen ich Jude war und blieb, wollten mir damit zu erkennen geben, daß ich ihnen nicht genug tun konnte, als Jude nämlich; daß ich, als Jude, nicht fähig sei, ihr geheimes, ihr höheres Leben mitzuleben, ihre Seele aufzurühren, ihrer Art mich anzuschmiegen. Sie räumten mir die deutsche Farbe, die deutsche Prägung nicht ein.

Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, 1921.

Nach gründlicher Ausbildung und Vorbereitung auf die vor ihnen liegenden Aufgaben beteiligten Wilhelm (1847-1923), Theodor (1850-1916) und Albert (1853-1923), die Söhne von Carl, und Richard (1857-1933), der Sohn von Adolph, sich an der Führung des Unternehmens:
Wilhelm, der eine Lehre als Buchhändler absolviert hatte, führte die Redaktion. Theodor unterstützte nach einer Lehre als Färber in Dresden und einer anschließenden kaufmännischen Ausbildung in Kassel seinen Vater Carl bei der Geschäftsführung. Albert hatte das Setzer- und Druckerhandwerk erlernt und teilte sich, nach der Rückkehr von seinen Gesellen-Wanderjahren, die ihn in Leipziger, Hannoveraner und Berliner Betriebe geführt hatte, die technische Leitung mit seinem Onkel Adolph. Richard schließlich ließ sich ebenfalls als Setzer und Drucker ausbilden, sammelte wie sein Cousin erste Berufserfahrungen in Leipzig und Berlin und arbeitete danach noch eine Zeit lang als Maschinenschlosser bei einem der damals modernsten Hersteller für Druckmaschinen, ehe er heimkehrte und die technische Leitung von seinem Vater übernahm, als dieser in den verdienten Ruhestand trat und nur noch bei Bedarf konsultiert wurde.
Unter der gemeinschaftlichen Leitung der vier Männer erlebte das Unternehmen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg seine Hochzeit. Ihr national-liberales Kasseler Tageblatt mit Handelszeitung - so der vollständige Titel - war mit den Beilagen Steuer und Recht, Handwerk und Technik, Auto und Kraftrad, Erziehung und Unterricht und Die Musik eines der meinungsbildenden Blätter  in der Region. Darüber hinaus bediente das Unternehmen eine ländliche Leserschaft mit eingängiger Literatur, stellte Spielzeug aus Pappe und Papier her, veröffentlichte für Autoren Manuskripte, druckte für Handwerker Streuzettel, für Vereine Plakate, für die Industrie Kartonagematerial und Gesetzessammlungen für regierungsamtliche Stellen. Von diesen wurde es wiederholt mit gewinn- und prestigeträchtigen Veröffentlichungen betraut, z. B. dem dreibändigen Handbuch für die Provinzial-Verwaltung der Provinz Hessen-Nassau.

Aus der Druckerei Gotthelft

1902:
Gesetzessammlung für die Provinz Hessen-Nassau, Band 3: Invaliden Versicherung.
1908:
Festschrift zum 100. Geburtstag von Dorothea Grimm, Mutter von Jakob und Wilhem Grimm. Den Verkaufserlös stellten die Gotthelfts für wohltätige Zwecke zur Verfügung.
1910:
Werbeplakat (85 x 54 cm) Hessische Ausstellung für den Kunstverein Kassel.
ca. 1930:
Auf der Reichsautobahn - Der Weg zum Ziel, ein deutsches Spiel, Brettspiel auf Karton, ca. 36 x 27 cm.

Die Gotthelfts waren Vertreter eines mittelständischen Wirtschaftsbürgertums, das sich in der zweiten Jahrhunderthälfte vor dem Hintergrund der umfassenden ökonomischen Modernisierung Deutschlands aus kleinen Anfängen entwickelt hatte. In Kassel zählten sie zu den angesehenen Famiilen und gaben um 1920 mit ihrem Unternehmen über 200 Menschen Arbeit: als Redakteure, Schriftsetzer, Buchbinder, Maschinenführer, Lageristen, Bürogehilfen, Austräger. Zu den Auszubildenden, die sie im Laufe der Jahrzehnte mit den Buchdruckerhandwerk vertraut machten, gehörte auch der spätere sozialdemokratische Politiker Philipp Scheidemann (1865-1939), der den Gotthelfts zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb.
Die Überführung der Firma Gebrüder Gotthelft in die Aktiengesellschaft für Druck und Verlag erfolgte 1923. Die neue Bezeichnung ist in dieser Aufnahme (um 1928) der Kölnischen Straße 10 über Eingang und Schaufenster zu sehen.
Eine der Rotationspressen des vogtländischen Herstellers VOMAG im Maschinensaal der Druckerei um 1928. VOMAG war mit seinen Geräten unangefochtener Marktführer bei der Ausrüstung kleiner und mittelständischer Druckereibetriebe.
Schalterraum der Tageblatt-Hauptstelle um 1928. Die drei Aufnahmen sind dem Kasseler Tageblatt mit Handelszeitung vom 5. Dezember 1928 entnommen, der Jubiläumsausgabe zum 75-jährigen Bestehen der Zeitung, und wurden vom Atelier C. Ebert (Kassel) angefertigt (Archiv  Chr. H).
Die Gotthelfts waren in Vereinen und öffentlichen Gremien vertreten und demonstrierten ihren Bürger- und Gemeinsinn mit Spenden für soziale, kulturelle und vaterländische Zwecke. Fanny (1861-1923) , die Frau von Theodor, besuchte als Vorsitzende der Mutter-Kind-Sektion des Kasseler Roten Kreuzes junge Mütter und ihre Kinder, die nach der Geburt von der Hilfsorganisation betreut wurden. Wegen ihres karitativen Einsatzes erhielt Fanny in dankbarer Hochachtung den Beinamen "Engel der Altstadt"
Entsprechend ihres Selbstverständnisses als treue Staatsbürger und Patrioten stimmten die Gotthelfts in die Begeisterung ein, die der Kriegsbeginn im August 1914 bei vielen Deutschen auslöste. Mitglieder der Familie dienten im Ersten Weltkrieg an der Front und in der Heimat. Ein Schwiegersohn konstruierte Flugzeuge für die noch junge Luftwaffe.Karl, ein Sohn von Albert, berichtete unter dem Titel Freitag-Abend im Felde über einen jüdischen Frontgottesdienst, zelebriert von Leo Baeck (1873-1956), dem bedeutendste Vertreter des liberalen Judentums in Deutschland. Baeck, so vermerkte Karl in seinen Aufzeichnungen, habe als Feldrabbiner die Andacht mit dem gemeinsam gesungenen Niederländischen Dankgebet begonnen:
„Der Vorlesung eines Psalms folgte eine gedankenreiche, aus dem Geist dieser Tage herausgeborene Predigt. Von der Pflicht des Ausharrens und der steten Begeisterung [...] sprachen die Worte des Geistlichen. Dem Abendgebet folgte das - im Andenken an unserer gefallenen Glaubensgenossen doppelt ergreifende Kaddisch=Gebet [jüdisches Totengebet, Chr. H.], dem sich nach der Vorlesung zweier weiteren Psalmen das deutsche Gebet und der Segen anschlossen. Damit war die Andacht, die uns alle, fern der Heimat und im Geiste doch so nah den Unseren, wunderbar ergriffen, zu Ende."

(Carl Gotthelft, Freitag-Abend im Felde, in: Im deutschen Reich - Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, 1915, Heft 5-7, S. 134.)
Bereits an diesem kurzen Abriss zeigt sich, was die Gotthelfts vor allem waren: Deutsche ihrer Epoche und Gesellschaftsschicht, denselben Idealen und Ideologien verpflichtet wie ihre christlichen Mitbürger. Von diesen unterschied sie nur ihr jüdischer Glaube. Eine Enkelin beschrieb die Großeltern rückblickend als "religiös, aber nicht bigott". Theodor Gotthelft zählte zu den Gemeindeältesten in Kassel, sein Cousin Albert gehörte dem Landrabbinat an. Die Gotthelfts nahmen an den Gottesdienste in der Synagoge teil, feierten die Berit Mila (Beschneidung) und Bar Mizwa (Religionsmündigkeit) ihrer Nachkommen, begingen die Hohen Feiertage Rosch ha-Schana und Jom Kippur, manche aßen und tranken koscher. Mitglieder der Familie spendeten für die Alliance Israélite Universelle und halfen damit bedrängten Glaubensbrüdern in Osteuropa. Sie verstanden sich als Deutsche und als Juden – als Angehörige des jüdischen Volkes in der Diaspora. Für die Gotthelfts galten die Worte des deutsch-jüdischen Schriftstellers Gustav Landauer (1870-1919): „Mein Deutschtum und mein Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb. Wie zwei Brüder von einer Mutter, so erlebe ich dieses seltsame und vertraute Nebeneinander als ein Köstliches und kenne in diesem Verhalten nichts Primäres oder Sekundäres.“ Diese Haltung drückt sich in den zwei Vornamen aus, die Theodor Gotthelft seiner dritten Tochter gab: Frieda, der erste Vorname, war althochdeutschen und Esther, der zweite Vorname, jüdischen Ursprungs. 
Die historische Wahrheit, von Landauer so prägnant in Worte gefasst, leugneten jene nicht-jüdische Deutsche, die die verbindenden Gemeinsamkeiten übersahen, verblendet von einem alten Hass, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts neue Nahrung fand und sich selbst den Namen Antisemitismus gab. Er war Reaktion auf die jüdische Selbst-Emanzipation und Gleichstellung und die mit beiden einhergehende, weithin sichtbare Bedeutung jüdischer Deutscher für Kunst, Wissenschaft und Ökonomie. Juden waren auf fast allen Gebieten zu gleichberechtigten und oft erfolgreichen Konkurrenten von Christen geworden, was bei diesen Neid, Furcht und Ablehnung hervorrief, drei wesentliche Triebfedern des Antisemitismus. Dessen Hetze kristallisierte sich beispielhaft in der erbitterten Auseinandersetzung um die Errichtung eines Denkmals für den Dichter Heinrich Heine (1797-1856), den die Gegner des Projekts als „Pfahl in unserem Fleische“ bezeichneten, als „Prototyp des modernen, entarteten Judentums, das […] nirgends in der Welt fröhlicher gedeiht als in Deutschland“.
Diese Judenfeindschaft streifen Richards Lebenserinnerungen im Zusammenhang mit dem Lob für einen verdienten Mitarbeiter in nur einem Halbsatz: "Unermüdlich fleißig und treu hat er stets an seinem Platz gestanden, und gerade in den schweren Zeiten des Antisemitismus in den 80er Jahren mit Takt und Geschick das Redaktionsschifflein durch manchen harten Sturm geführt." Gegen welche Anfeindungen die Gotthelfts zu kämpfen hatten, schreibt Richard nicht, der ein durchsonntes Bild der Vergangenheit als "guter alter Zeit" zeichnet, die - abgesehen von dem genannten Jahrzehnt - Judenfeindschaft und Judendiskriminierung nicht gekannt habe. Folgt man seinen Aufzeichnungen, erfuhren davor und danach weder sein Vater Adolph noch sein Onkel Carl noch ein Mitglieder der Familie infolge ihres Judentums Nachteile: "Ihr seht eine bescheidene, einfache und zufriedene Welt in der [...] die Menschen ohne Klassen- und Rassenhaß [...] mit- und untereinander verkehrten". Auf den fast 80 Seiten nichts über judenfeindliche Zurücksetzungen, Gehässigkeiten, Anfeindungen oder Beleidigungen zu lesen - statt dessen viel über die Hochachtung, die beide Brüder und ihre Angehörige bei den Mitbürgern genossen: Mit den Schoppachs, Löschborns und Wiskemanns, den christlichen Mietern im Haus, stand man auf vertrautestem Fuße, lieh sich sogar gegenseitig die besseren Kleidungsstücke für besondere Anlässe, im Viertel waren beide Brüder, "der Adolph" und "der Carl", für ihre Hilfsbereitschaft und ihren Gemeinsinn geschätzt.
Richard Gotthelft, Erinnerungen aus guter alter Zeit,
Selbstverlag, Gebrüder Gotthelft 1922, 74 Seiten.
Ein kurzer Blick auf nur einige der judenfeindlichen Geschehnisse, die sich zu Lebzeiten von Carl, Adolph und ihrer Nachkommen in und um Kassel zutrugen, lässt vermuten, dass Richard beim Zurückblicken bewusst oder unbewusst übersah, um sein durchsonntes Bild der Vergangenheit zeichnen zu können:
Anfang August 1819, sein Onkel Carl war gerade zwei Jahre alt, begannen in Würzburg die Hep-Hep-Unruhen und griffen in den folgenden Wochen auf weite Gebieten des Deutschen Bundes über. Jüdisches Eigentum wurde zerstört, jüdische Männer und Frauen auf den Straßen beleidigt, bedroht, angegriffen. In einigen Orten wuchsen sich die Tätlichkeiten zu Straßenschlachten aus. Im kurhessischen Fulda und Marburg stachelten antijüdische Kräfte die Bevölkerung mit Flugblättern zur Teilnahme an den Unruhen auf, die im September Kassel erreichten, wo Schüler des Lyzeums jüdische Eltern und ihre Kinder in den Straßen verfolgten, beleidigten und dazu zwangen, in die judenfeindliche Parole "Hep Hep" einzustimmen. Am 16. September meldete der Oberpolizeidirektor dem kurfürstlichen Oberschulrat:
"Es ist mir [...] angezeigt worden, daß Schulkinder sich erlauben den Israeliten und deren Kindern das jetzt so berüchtigte Hepp-Hepp [sic!] auf der Straße nachzurufen, und selbst die israelitischen Kinder durch Gewalt und Mishandlung [sic!] zu zwingen jenes Losungswort zur Unordnung selbst zu rufen."

(Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best 17 h Nr. 170)
1830 und 1848? Wenn ergebnislos, dann: Schwer vorstellbar, dass diese Feindschaft in den nächsten Jahrzehnten einfach verschwunden war, Biedermeier als eine schwierigsten Phasen der dt.-jüdischen Geschichte, und quasi durch den Antisemitismus neu geniert wurde, erwachte, aktiviert wurde. Antisemitismus ab 1880 hätte nicht vorstellbar, ohne die latenten Ressentiments in den Jahrzehnten
Der Antisemitismus der 80er Jahre, auf den Richard im oben zitierten Halbsatz anspielte, manifestierte sich in Kassel u. a. in einer gut besuchten Ansprache des Berliner Hofpredigers Adolph Stoecker, eines einflussreichen Exponenten der antijüdischen Agitation, im Erscheinen zweier judenfeindlicher Zeitungen, des Geldmonopols und des von Ludwig Werner geführten Reichsgeldmonopols (später Antisemitisches Volksblatt), in der Gründung eines Zweigs der Deutschen Reformpartei durch "eine ziemliche Anzahl Antisemiten" (Allgemeine Zeitung des Judentums vom 13. April 1886) sowie im Deutschen Antisemiten-Kongress in den Pfingsttagen des Jahres 1886. Die Forschungsliteratur bezeichnet denn auch den Regierungsbezirk und die Bezirkshauptstadt Kassel als frühe Hochburg des organisierten Antisemitismus, das gesellschaftliche Klima in den 80er Jahren als durch Hetze und Vorurteil vergiftet.

Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich
(1871 bis 1918)
Die antisemitischen Bewegungen und ihre Sympathisanten vertraten ihre  Standpunkte unverhohlen, was von Staat und Gesellschaft geduldet und meist nur bei extremen Grenzüberschreitungen bestraft wurde. Mit einer kaum überschaubaren Flut von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, Reden und Postkarten säten oder bestärkten sie auf unterschiedliche Weise die Feindschaft und den Hass gegen ihre Mitbürger, die jüdischen Deutschen. Neben krudester Agitation, die nicht dafür zurückscheute, historische und zeitgenössische Schauermärchen von Ritualmorden durch Juden an Christen als wahr zu progagieren, standen pseudowissentschaftlichen Untersuchungen, die bewusst mit falschen Daten arbeiteten, um ihre Leser in die Irre zu führen, oder tatsächlich vorhandene negative Einzelerscheinungen im deutschen Judentum unbesehen auf die ganze Bevölkerungsgruppe verallgemeinerten. Der deutsche Antisemitismus war kein einheitlicher Block, vielmehr stritten zahlreiche Gruppen unterschiedlicher politischer, sozialer und okonömischer Ausrichtung um Anhänger und Wähler. Selbst bei ihrem Kernthema, der Judenfeindschaft, konkurrierten sie inhaltlich miteinander: Man bekämpfte sich, schloss Bündnisse, um diese nach einiger Zeit wieder aufzukündigen. Eine Gemeinsamkeit bestand im eifrigen Beobachten der antisemitischen Propaganda in anderen Nationen. Begierig griff man Themen auf und schlachtete sie für eigene Zwecke aus: die Dreyfus-Äffäre im benachbarten Frankreich ebenso wie die antisemitischen Artikel des italienischen Osservatore Cattolico und des US-amerikanischen Dearborn Independent, der vom Industriellen Henry Ford finanziert wurde. Im folgenden Beispiele für antisemitische Propaganda im Deutschen Kaiserreich am Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts (zum Vergrößern bitte auf die Abbildungen klicken).
1886:
Otto Böckel, Die Juden - die Könige unserer Zeit, Berlin 1886, 4. Auflage.
Die 15-seitige Broschüre schließt mit dem Aufruf "Kauft nur bei Deutschen (Christen)!"Bereits ein Jahr später erschien das Heft wegen der starken Nachfrage in der 25. Auflage.
Böckel gehörte zu den umtriebigsten Antisemitien in Hessen. Eine seiner Parolen lautete "Deutschland den Deutschen". 1887 gelang ihm als unabhängiger Abgeordenter der Einzug in den Reichstag.
1893:
Theodor Fritsch, Antisemiten-Katechismus, Leipzig 1893.
Fritsch publizierte auch unter den Pseudonymen Thomas Frey, Fritz Thor und Ferdinand Roderich-Stoltheim zur angeblichen Verjudung der Gesellschaft. Sein Katechismus, 1887 zum erstenmal erschienen, gehörte zu den einflussreichsten antisemitischen Schriften überhaupt. Bereits 1886 hatte er mit Böckel die kurzlebige Deutsche Antisemitische Vereinigung gegründet. Gedanken aus dem Katechismus griff Adolf Hitler in seiner Programmschrift Mein Kampf auf.
1895:
Anonym, Die Aufhebung der Juden-Emanzipation..., Leipzig 1895.
Zum umfangreichen antisemitischen Programm des Beyer-Verlags gehörte neben dem Katechismus auch diese anonyme Schrift, die im dritten Teil die Rücknahme der Emanzipation jüdischer Deutscher fordert. Im ersten Teil wird die Unehrenhaftigkeit von Juden behauptet, im zweiten Teil die Ritualmord-Lügen als wahr bezeichnet.
Die Postkarte (Poststempel 27.06.1898) ist, ebenso wie die nachfolgende, beispielhaft
für die negativen Klischees, die Antisemiten und ihre Sympathisanten über
Juden verbreiteten:Der typische Jude sei hässlich und reich, jedoch ohne Bildung
und Kultur, was sich ingeschmackloser Kleidung und protzigem Auftreten ebenso
ausdrücke wie in unverhohlenerLüsternheit nach nicht-jüdischen Frauen.
Im Bildhintergrund erhebt ein "Alter Herr", erkennbar an der Mütze, dem Tönnchen,
drohend seinen Spazierstock gegen den Juden, der in der zweiten Verszeile
als Teufel bezeichent wird.
(Juliane Peters: Spott und Hetze – Antisemitische Postkarten 1893-1945,Berlin 2008).
Die Postkarte, versendet als ´Neujahrsgruß´ (Poststempel 31.12.1898), variiert
das Klischee der Juden als Bevölkerungsgruppe, die nur auf materiellen Reichtum
fixiert sei und vor allem Nicht-Juden schamlos ausnutzeund betrüge,
um ihn zu akkumulieren. Auf der Vorderseite der Karte konnte der Name des
Judeneingetragen werden, der Ziel des antisemitisches Spotts werden sollte
(ebendort).

In Kassel setzten sich die antisemitischen Zwischenfälle und Aktionen auch nach den von Richard genannten "80er Jahren" fort: Werner beleidigte einen jüdischen Rechtsanwalt so schwer, dass er 1890 zu vierzehntägiger Gefängnishaft verurteilt wurde - allerdings erst, nachdem die Staatsanwaltschaft gegen das zu milde Urteil der Erstinstanz, eines Schöffengerichts, Berufung eingelegt hatte. 1898 versammelten sich in Kassel die Mitglieder der judenfeindlichen Deutschsozialen Reformpartei, 1903 kam es im großen Stadtparksaal zur einer antisemitischen Kundgebung mit etwa 800 Teilnehmern, 1907 verweigerte der Unternehmer Simon einem jüdischen Magistratsmitglied den Zutritt zu seiner Fabrik, als die von einer städtischen Delegation besichtigen werden sollte. Kassels Stadtverordnetenversammlung musste sich 1920 mit judenfeindlichen Vorgängen an Schulen und in Jugendverbänden auseinandersetzen:
"Wie weit dieses Uebel unter den Schülern hiesiger höherer Schulen um sich gegriffen hat, davon wissen unserer jüdischen Mitbürger betrübende Einzelheiten zu berichten. Wenn ein achtjähriges jüdisches Mädchen bei ihrer Aufnahme in einer Klasse von ihren Mitschülerinnen einmütig gemieden wird, noch ehe sie sie kennen gelernt haben, so muß ein ein solcher Vorfall geradezu Verheerungen im zarten Gemüt eines Kindes anrichten. Quartaner sind dabei erwischt worden, als sie antisemitische Hetzzettel an die Mauern klebten; der ´Wandervogel´ weigert sich, jüdische Schüler aufzunehmen."

(Zeitschrift Der Israelit vom 15. April 1920)
Vor dem Hintergrund dieser - nicht vollständigen - Addition antisemitischer Geschehnisse fällt es dem Leser schwer, Richards Erinnerungen an die Vergangenheit als einer "guten alten Zeit", in der Judenfeinschaft sich auf ein Jahrzehnt beschränkt habe, zweifelsfrei zu folgen. Viel eher ist man geneigt, den schmalen Band als Vermächtnis eines liebenswürdigen Greises zu lesen, der am Ende eines langen Lebens, in der Rückschau auf das Geschehene, nicht an Verletzungen oder gar Demütingen erinnern wollte, die Mitgliedern der Familie aufgrund ihres jüdischen Herkommens widerfahren waren. Die Annahme, dass die Erfahrungen der Gotthelfts mit ihren christlichen Mitbürgern tatsächlich nicht so konfliktfrei waren, wie Richard sie rückblickend schilderte, wird durch den Bericht einer Enkelin von Wilhelm Gotthelft bestärkt. Die erinnerte sich im hohen Alter an Anderes: Ihre Verwandten in Kassel hätten manche Mitbürger nicht zu Gesellschaften und Geselligkeiten eingeladen, weil sie wussten, dass sie Antisemiten waren.
Auch in den autobiographischen Schriften des Journalisten und Schriftstellers Julius Rodenberg (1831-1914), der über eine Schwester mit den Gotthelfts in verwandtschaftlicher Beziehung stand, findet sich - wie in Richards Erinnerungen - nichts, das auf Erfahrungen von Diskriminierung auf nur hindeutet. Mehr noch: Während sich aus Richards kurzem Rückblick das Judentum der Gotthelfts erschließt, u. a. erzählt er vom Familienfest anlässlich der Beschneidung seines Bruders Hugo, enthalten Rodenbergs sehr viel umfangreichere Erinnerungen aus der Jugendzeit (1899) keinen Hinweis darauf, dass er jüdische Wurzeln hatte und als Erwachsener den elterlichen Familiennamen ablegte, der ihn eindeutig als Jude identifizierte, um dadurch den Benachteiligungen und Anfeindungen zu entgehen, denen jüdische Deutsche sich durch christliche Deutsche ausgesetzt sahen. Anrührend führt Rodenberg dem Leser die Geborgenheit vor Augen, die seine Geschwister und er im Elternhaus genossen, schildert die Liebe und Güte, die dort herrschten. Doch versagt er sich fast gänzlich die Rückschau auf die jüdischen Traditionen, die auch Teil dieser glücklichen Kindheit und Jugend waren, so dass die zweibändigen Erinnerungen sich ganz wie die Autobiographie eines Deutschen lesen, der in einem christlichen Elternhaus geboren wurde und aufwuchs. Offensichtlich scheute Rodenberg davor zurück, eine christliche Mehrheitsgesellschaft an seine jüdischen Wurzeln zu erinnern, die von etlichen als Makel, wenn nicht sogar als Schande betrachtet wurden. Es drängt die Frage sich auf, ob auch Richard alles Jüdische aus seinen Erinnerungen verbannt hätte, wären sie nicht für die Familie, sondern für das breite Publikum bestimmt gewesen, die in Teilen offen oder latent antisemitisch eingestellt war. Erst in seiner letzten Veröffentlichung, dem 1907 erschienenen Bändchen Aus der Kindheit, räumte Rodenberg seinem jüdischen Herkommen auf wenigen Seiten erzählerischen Raum ein, ganz so, als dränge es den 76-jährigen, dessen Tage gezählt waren, vor seinen Lesern - und vielleicht auch vor sich selbst - doch noch Zeugnis von seinen Wurzeln abzulegen. "Jahrelang", so schreibt Rodenberg in der Vorbemerkung, habe das Manuskript, "viel vorgenommen, immer wieder zurückgelegt, in meinem Pulte geschlummert". In plastischen Bilder lässt Rodenberg vor dem geistigen Auge des Lesers "die kleine Stadt" seiner Kindheit entstehen, "ein Landstädtchen mit eigentlich nur zwei Straßen". Etwas abseits, umgeben von Gärten, lag die "Synagoge, damals noch ein ziemlich neuer Bau; im Vorderhause war die Schule der jüdischen Gemeinde und gegenüber in einem offenen Schuppen wurden die Grabsteine für ihre Verstorbenen behauen."Auch an das dunkle und verwinkelte Haus der Großmutter wanderten die Gedanken des alten Mannes zurück, wie seine Spielgefährten und er es durchstreiften, dabei auch die Betstube nicht ausließen, die sie stets nur mit Herzklopfen betraten: "[V]or dem Allerheiligsten, einem Schränkchen, in dem eine Thora stand, hing ein Vorhang von verschossener Seide mit silbernen Buchstaben bestickt, die längst vor Alter schwarz geworden waren."
Der Altertumswissenschafler und Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen (1817-1903) war im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts eine moralische Authorität, die auch jenseits des wissenschaftlichen Fachpublikums Gehör fand. Mommensen engagierte sich vehement im Kampf gegen den immer stärker um sich greifenden Antisemitismus. Dieser sei "eine schauerliche Epidemie. Man kann ihn weder erklären noch teilen. Man muss geduldig warten, bis sich das Gift von selber austobt und seine Kraft verliert." Um im Bild Mommsens zu bleiben: Es verliert an Kraft nur das, was nicht genährt wird. Der Antisemitismus jedoch wurde in den Jahrzehnten, die auf die 80er-Jahre folgten, beständig und reichhaltig genährt, mit Büchern, Postkarten, Reden, politischen Aktionen, so dass er nicht - wie Mommensen gehofft hatte - zu einer marginalen Bewegung oder Geisteshaltung verkümmerte. Den in Teilen der Bevölkerung offen oder latent fortwirkenden Antisemitismus bedienten und radikalisierten die Nationalsozialisten mit ihrer Propaganda, die viele Deutsche dazu bewog, die Ausgrenzung und Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger mit stiller Genugtuung zu registrieren oder sich sogar an Verbrechen gegen sie zu beteiligen.
Frieda, die Tochter von Theodor Gotthelft, sah den Niedergang des Kasseler Tagblatts als direkte Folge eines Antisemitismus, der in Kassel schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten so mächtig war, dass er den jüdische Familienbetrieb in den Ruin zu treiben vermochte. Antisemitische Kräfte, so schreibt Frieda, hätten große Unternehmen durch Druck dazu bewogen, ihre Anzeigen zurückzuziehen. Wichtige Einnahmen seien dem Tageblatt  verloren gegangen, das deshalb sein Erscheinen habe einstellen müssen. An späterer Stelle werde ich ausführlich auf die Gründe für den Untergang der Traditionszeitung eingehen, die eine wichtige Stimme des bürgerlichen Liberalismus in der hessischen Presselandschaft war. Zum Ende trug maßgeblich, soviel sei hier schon gesagt, die Weltwirtschaftkrise bei, die im Oktober 1929 mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse ihren Anfang nahm und sich bis in die 30er Jahre fortsetzte. Der Leitartikel Ungewisses Deutschland der Neujahrsausgabe vom 1.1.1932 widmete sich der Krise und ihrer weitreichenden Folgen für Gesellschaft und Politik in Deutschland. Der Verfasser des Beitrags verstand sich als Teil und Sprachrohr eines Kollektiv, des deutschen Volkes, das wie er unmittelbar und ganz existentiell von den Auswirkungen der Krise betroffen sei und in eine düstere Zukunft blicke, ohne den geringsten Hoffnungschimmer am Horizont erkennen zu können:
Was uns bedrückt an dieser Jahreswende, was alle angstvoll in den verhangenen Himmel des neuen Jahres blicken läßt, ist nicht die gewaltige Unsicherheit allein, die über dem wirtschaftlichen und sozialen Schicksal jedes einzelnen lastet. Es ist zu dieser Stunde vor allem die Enttäuschung darüber, daß dieses Jahr grenzenloser Verwirrung und schlimmer Katastrophen wieder einmal ohne Entscheidung, ohne sichtbaren Abschnitt, ja ohne innere Entwicklung im  Krisengeschehen selbst geblieben zu sein scheint. Die Tage verrinnen grau in grau und geben keine Antwort auf Fragen und Anklagen, die mit wachsender Ungeduld gegen Volk, Regierung, gegen die Welt und das Geschick, in das wir verflochten sind, gerichtet werden. Man bäumt sich auf gegen die Unausweichlichkeit dieser Krise, ganze Parteien sind nichts als ein Protest gegen das, was geschieht; es ist der Protest des Menschen, der nicht mehr mitmachen will, well er nicht mehr weiß, wozu dies alles vor sich geht [...]. Es ist eine totale Krise, die uns umgibt, keineswegs nur eine wirtschaftliche, das ist erst in diesem letzten Jahr in alle Schichten gedrungen."
Am 30.09.1932, fast auf den Tag genau neun Monate nach dem düsteren Ausblick in der Neujahrsausgabe, musste das Kasseler Tageblatt sein Erscheinen einstellen - im 79. Jahr seine Bestehens! Welcher Verlust der Untergang des Blattes für seine Leser darstellte, zeigt sich eindrucksvoll an der Neujahrsnummer: Als Feiertagsausgabe enthielt sie einen umfangreichen Sportteil, eine Sonderbeilage (hier Mode) und ein mehrseitiges Feuilleton mit belletristischen und kulturhistorischen Beiträgen. Die 20 Seiten zeugen vom inhaltlichen Niveau des reichhaltigen regionalen und überregionalen Informationsangebots, das von den Machern viel Herzblut produziert wurde.
Kasseler Tageblatt und Handelszeitung vom 01.01.1932
Für literaturinteressierte Leser war die Sonntagsbeilage Die Kaskaden von besonderem Interesse, da sie klassische und zeitgenössische Kurzprosa in abwechslungsreicher Zusammenstellung bot. Zu den modernen Autoren zählten so unterschiedliche Geister wie Selma Lagerlöf, Georg Britting, Hermann Hesse, Alfred Kantorowicz, John Galsworthy und mehrfach auch Heinz Steguweit, der nur wenige Monate nach seinem letzten Beitrag ein Gelöbnis treuester Gefolgschaft gegenüber Adolf Hitler abgab und damit seinen Aufstieg in dessen ´Drittem Reich´ begann. Der jüdische Schriftsteller Alfred Kantorowicz hingegen, der für linke und liberale Zeitungen Beiträge verfasste, gehörte zu den ersten hundert Personen, die von den Nationalsozialisten ausgebürgert wurden. 
Alfred Kantorowicz: "Die längste Stunde" in den "Kaskaden" vom 27.09.1931
Von den vier Männern, unter deren Führung das Kasseler Tageblatt sich als eine der führenden Zeitungen in der Region etabliert hatte, erlebten drei das Ende ihres Lebenswerks nicht mehr. Theodor starb 1916, seine älteren Brüder Wilhelm und Albert starben 1923 bzw. 1924. Die letzte Ruhestätte der Geschwister ist der jüdische Friedhof in Bettenhausen.
Grabstätte von Theodor und seiner Ehefrau Fanny auf dem jüdischen Friedhof in Bettenhausen
 im April 2019 (Aufnahme Chr. H.). Das Giebeldreieck ziert als Schmuck ein Davidsstern,
Symbol für den Glauben der unter ihm Bestatteten.
Grabstätte von Albert und Mathilde (1864-1927) auf dem jüdischen Friedhof
in Bettenhausen (Der Jüdische Friedhof - Eine Stätte des Lebens -
Alter Jüdischer Friedhof zu Kassel-BettenhausenCD-ROM,
 Jüdische Gemeinde Kassel 2007).
Grabstätte von Wilhelm und seiner Ehefrau Emma (1858-1938) auf dem jüdischen Friedhof in Bettenhausen
 im April 2019 (Aufnahme  Chr. H.). Noch als hochbetagte Greisin ertrug Emma die Diskriminierungen
der NS-Zeit, ebenso die Trennung von ihren Töchtern, ihren Enkelkindern und ihren Schwiegersöhnen.
Alle befanden sich im englischen bzw. italienischen Exil.
Richard und seine Ehefrau Selma erlebten noch den Zusammenbruch des Kasseler Tagesblatt - und die nationalsozialistische Machtübernahme. Sie fanden ihre letzte Ruhestätte nicht bei ihren Verwandten auf dem jüdischen Friedhof. Das betagte Ehepaar nahm sich im Juni 1933 das Leben - aus fassungslosem Entsetzen über die ersten Maßnahmen der Nazis gegen die jüdische Bevölkerung auch in Kassel und der Ahnung, dass der gegenwärtige Schrecken nur Vorspiel zu einem sehr viel größeren war, der in der Zukunft folgen würde. Der Mann, der Anfang der 20er Jahre seine Kinder und Enkel in den Erinnerungen aus guter alter Zeit an das biblische Gebot "Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst." erinnert hatte, musste unter anderem mit ansehen, wie SA-Männer am 1. April 1933, dem Tag des Deutschland weiten Boykotts jüdischer Geschäfte, in der Innenstadt von Kassel einen Platz mit Stacheldraht umzäunten und an ihm ein Schild mit der Aufschrift "Konzentrationslager für widerspenstige Bürger, die ihre Einkäufe bei Juden machen" befestigten. Bereits im März hatten Nationalsozialisten Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten in ihrem Versammlungslokal in der Oberneustadt misshandelt und gefoltert. Der Rechtsanwalt Maximilian Plaut, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatte, starb an seinen Verletzungen. Eine Enkelin von Wilhelm berichtet, dass Richards und Selmas Selbstmord vertuscht, die Toten im Krematorium des Kasseler Hauptfriedhofs eingeäschert und ihre Urnen auch dort beigesetzt wurden, weil die jüdische Gemeinde sich aus religiösen Gründen der Bestattung in Bettenhausen widersetzte:
"The ashes were interred in the Christian cemetery in Holländische Straße, as cremation was not permitted by the jewish community. The suicide was hushed up in order to secure a dignified interment."

Adelheid Schweitzer, Family Chronicle, Typoskript (Archiv Chr. H.)

Share by: